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Cybersex – Männer wo seid ihr?

„40 Millionen Menschen leben heutzutage in Sklaverei. Das sind so viele wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.“ Seit 18 Monaten engagiere ich mich bei International Justice Mission, der weltweit größten Anti-Sklaverei-Organisation. Ich kann mich mittlerweile nicht mehr erinnern, wie oft ich den Eingangssatz bei Vorträgen, in Predigten oder in persönlichen Gesprächen schon gesagt habe. 40 Millionen Menschen in Sklaverei – als ich diese Zahl zum ersten Mal gehört hatte, war ich tief getroffen. Mittlerweile kommt sie mir manchmal surreal vor. Einfach so daher gesagt. Ich fühle mich abgestumpft – bei all dem Leid dieser Welt. Und dann ist sie auch einmal wieder ganz nah vor Augen, ich fühle mich tief betroffen von dem Leid, den 40 Millionen Einzelschicksalen. Sklaverei? Ist doch abgeschafft. Und was ist das eigentlich?

Laut Definition bedeutet Sklaverei die Ausbeutung einer Person gegen ihren Willen z.B. durch Androhung oder Anwendung von Gewalt oder Täuschung. Sehr abstrakt, diese Definitionen – haben Definitionen irgendwie an sich. Konkreter wird sie, wenn man sich echte Schicksale anschaut: „Wenn ihr nicht für uns arbeitet, töten wir euer Kind.“ – Steine hämmern bis zum Zusammenbruch. Oder: „Ich kann dir einen Job als Hausmädchen besorgen in einem anderen Land, sodass du deiner Familie und dir ein besseres Leben ermöglichen kannst.“ – Zwangsprostitution in einem Hinterhofbordell.

Sklaverei ist das Gegenteil unserer Wünsche für das, was wir unter „Leben“ verstehen. Das Gegenteil von Freiheit. Von Selbstbestimmung. Das Gegenteil von Löwe sein – und deshalb schreibe ich diesen Beitrag auf dieser Seite. Ein Löwe kämpft, er kennt seine Kraft, er ist majestätisch. Er ist der König der Tiere. Wenn er in die Enge gedrängt wird, setzt er zum Gegenschlag an. Ein Dilemma von Menschen in Sklaverei ist, dass sie in die Enge getrieben sind, aber keine Chance haben, sich selbst zu befreien. Sie brauchen einen Löwen, der für sie kämpft, der sie befreit.

Cybersexausbeutung – wozu besonders Männer fähig sind

Ein Grund, warum mich die Zahl 40 Millionen immer wieder neu erschüttert, ist, dass ich bei diesem Thema fast jede Woche neue Abgründe des Menschseins entdecke. Ich erschrecke, zu welchen abscheulichen Taten Menschen in der Lage sind, vor allem aber, was die Taten mit denjenigen machen, denen sie angetan werden. Einer der tiefsten Abgründe ist der Bereich Cybersexausbeutung. Ich rede nicht davon, dass sich Männer Pornos mit nackten Menschen anschauen – inzwischen gibt es Formen, die noch viel weiter gehen. Wenn man in diesem Business unternehmerisch tätig ist, würde man wohl sagen: „eine innovative, partizipative Art des digitalen Sexgewerbes.“ Cybersexausbeutung bedeutet, dass Menschen vor laufender Kamera zu sexuellen Handlungen gezwungen werden, die von den Zuschauern am anderen Ende des Internets bestimmt und bezahlt werden. Auch wieder etwas abstrakt. Machen wir es deshalb konkret: Ein Mann in den USA loggt sich auf einem Portal ein, sucht sich ein gewünschtes Sexobjekt aus – zum Beispiel die 14-jährige Joy aus Cebu, Philippinen – und schreibt in den Chat, wo sich die Minderjährige berühren soll – je nach Art der Anweisung überweist er per Knopfdruck 20, 50 oder 100 Dollar – nicht an das Mädchen, sondern seine Co-Täter vor Ort. Du kannst es dir denken oder vielleicht auch nicht, zu was Menschen in diesem Zusammenhang in der Lage sind. Eigentlich ist diese Beispielgeschichte schon grausam genug. Doch die Formen werden immer extremer. Es werden jetzt gerade auch Jungen im Kindergartenalter, Geschwister und Säuglinge auf diese Art und Weise grausam sexuell missbraucht.

Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich immer noch krassere, extremere Geschichten erzähle, wenn ich Vorträge zu diesem Thema halte – und muss mich selbst daran erinnern, dass Cybersexausbeutung in jedem Fall schlimm ist. Nicht nur in seinen Extremen.

Was hat das mit uns zu tun? Hier in Deutschland? Nun ja, die Männer mit den Dollars und den gestreamten Live-Videos auf dem Bildschirm sitzen nicht nur in den USA. Sie sitzen sehr häufig auch in Deutschland und bezahlen mit Euros. Das ist übrigens Kapitalismus in seiner perversesten Reinform: Wer Geld hat, hat die Macht zu bestimmen, was er bekommen möchte, und wer kein Geld hat, ist ohnmächtig und muss tun, wozu sie gezwungen wird… oder er, der Junge… oder es, das Baby. Cybersexausbeutung boomt, weil es in unserem Land, in deiner Region, in deiner Stadt Menschen gibt, die dafür bezahlen und weil es Menschen gibt, die Schutzlose, vor allem im globalen Süden, mit Gewalt und Täuschung zu diesen Handlungen zwingen. Auch das sind immer wieder Deutsche, die hier das große Geld verdienen. Und es sind vor allem Männer, die in einem Gefühl der Überlegenheit andere ausbeuten und demütigen. Deutsch? Männlich? Zu dieser Gruppe gehöre ich auch.

Bekämpfung von Cybersexausbeutung

Ich würde das hier nicht schreiben, wenn ich nicht wüsste, dass es Lösungen für diese Problematik gibt, dass Cybersexausbeutung bekämpft werden kann und bekämpft wird. Auch wenn es ein extrem schwieriger, komplexer und gefährlicher Prozess ist, gelingt es immer wieder, die Täter – ob im Hinterhof einer südostasiatischen Großstadt oder hinter dem Bildschirm einer westeuropäischen Kleinstadt – zu ermitteln, vor Gericht zu bringen und Verurteilungen zu erreichen. So ist im letzten Sommer erstmals ein Deutscher überführt worden, der auf den Philippinen Kleinstkinder unter zwei Jahren per Livestream sexuell missbraucht hat. Dazu braucht es langwierige Vorbereitungen von Computerexperten weltweit und verdeckten Ermittlern vor Ort, extrem professionelle Einsatzkommandos und starke Anwälte, die angemessene und abschreckende Gerichtsurteile ermöglichen, denn Cybersexausbeutung von Minderjährigen ist in jedem Land der Welt illegal – und vor allem extrem zerstörerisch. Aber in all der Grausamkeit gibt es Hoffnung: Menschen werden befreit, Täter werden bestraft, Rechtsysteme gestärkt.

Corona-Pandemie – der Markt für Cybersexausbeutung boomt

Das ist auch dringend notwendig, denn insbesondere durch die Corona-Pandemie boomt der Markt für Cybersexausbeutung. Es ist schön zu sehen, wie solidarisch wir während dieser Krise gerade werden. Da gibt es junge Leute, die für ihre älteren Nachbarn einkaufen gehen und wir halten uns in Deutschland alle mehr oder weniger an die Abstandsregeln. So richtig trifft die meisten von uns Corona nicht. Doch währenddessen entwickelt sich in den ärmsten Ländern der Welt eine wirkliche Krise – und zwar gerade im Bereich der Cybersexausbeutung. Das hat besonders mit uns in Deutschland zu tun. Denn hier schauen die Menschen nicht nur Netflix und Amazon Prime, sondern es steigt die Nachfrage nach hartem, pornografischem Material extrem – auf manchen Portalen um das drei- bis vierfache. Und besonders stark auch auf den illegalen Seiten, die sich zum Teil im Dark Net befinden und sexuelle Misshandlung von Minderjährigen anbieten. Gleichzeitig wird auch der Markt in den besonders armen Ländern immer größer: Näherinnen verlieren ihre Jobs, weil europäische Firmen keine Kleidung mehr bestellen. Weil es keine Arbeitslosenversicherung gibt, stehen die Menschen mit leeren Händen da. Und sie treffen auf Menschen, die ihnen Jobs für ihre Kinder anbieten – aber nicht als Hausmädchen, sondern vor Webcams. Eine schreckliche Mischung: die steigende Anzahl an schutzlosen Minderjährigen im globalen Süden, die immer besseren und hochauflösenden Internetverbindungen und viele Menschen in den USA und Europa, die wegen Kurzarbeit zu viel Zeit und trotz Kurzarbeitergeld genug Geld haben, um die perversesten sexuellen Phantasien mit verzweifelten jungen Frauen, schutzlosen Jugendlichen und Kindern im anonymen Livestream zu bezahlen. Lionchasers scheinen Zitate zu lieben. Hier ist ein passendes von Kevin Bales:

„Slavery happens where need meets greed.“

Call to Action – Das kannst du tun

Wenn du diesen Artikel bis hierhin gelesen hast, bin ich mir ziemlich sicher, dass du mit Cybersexausbeutung keinen Dreck am Stecken hast. Das ist zwar cool, aber eigentlich spielt es für den entscheidenden Punkt keine Rolle. Denn Dreck hat man nicht nur dann am Stecken, wenn man Unrecht tut, sondern auch dann, wenn man nichts gegen Unrecht tut, von dem man weiß, dass es existiert. Und weil du bis hierhin gelesen hast, weißt du spätestens seit heute, dass Moderne Sklaverei im Allgemeinen und Cybersexausbeutung im Speziellen Realität sind. Deshalb möchte ich dir drei Wege vorstellen, wie du die Ausbeutung von Menschen über das Internet bekämpfen kannst. Nicht damit du weniger Dreck am Stecken hast, sondern damit es den Dreck nicht mehr gibt. Menschen in Sklaverei können sich nicht selbst befreien, sie brauchen jemanden, der sie befreit.

Den ersten Schritt, den du unternehmen kannst, hast du bereits unternommen. Du hast dich informiert. Damit widersprichst du einer Lüge, die Menschen in Sklaverei so oft gehört haben, dass die meisten nicht anders können, als dieser Lüge zu glauben: „Niemand interessiert sich für dich!“ Informiere dich und informiere andere, indem du davon weitererzählst – in diesem Artikel kannst du lesen, wie du mit anderen ins Gespräch kommst. Es ist keine Phrase, wenn ich sage: je mehr Menschen vom Unrecht der Cybersexausbeutung erfahren, umso schneller wird sich etwas ändern.

Der zweite Schritt wird dir vielleicht etwas mehr wehtun, denn er geht an deinen Geldbeutel. Jede Befreiung aus Sklaverei kostet im Schnitt 6000 Euro. Das ist viel Geld – aber wenn man bedenkt, dass dadurch ein Menschenleben befreit und sprichwörtlich gerettet wird, wirkt die Summe eigentlich echt klein. Wir geben für alles Mögliche Geld aus und Geld ist de facto eine Ressource, die Einfluss hat: Menschen zahlen in Cybersex-Streams für den Kick weniger Minuten hunderte Euros. Wir können mit unserem Geld dagegenhalten und viel Gutes erreichen. Gerade in unserer Kultur haben wir gelernt, nicht viel über Geld zu reden, obwohl wir ständig über Geld nachdenken. Deshalb schreibe ich hier ganz offen über mein Geld – nicht, weil ich zeigen möchte, was für ein guter Mensch ich bin, sondern weil es mein großer Wunsch ist, dass Menschen Freiheit erleben. Ich hatte während meines Studiums etwa 500 Euro monatlich zu leben. Damals habe ich angefangen 50 Euro im Monat zu spenden, um Menschen Freiheit zu ermöglichen. Das tat finanziell irgendwie auch weh. Jetzt habe ich einen guten Job und ich kann mehr Geld abgeben – es tut manchmal immer noch finanziell weh – aber eigentlich auch nicht. Wenn du Menschen aus Cybersexausbeutung befreien willst, dann werde Freiheitspate.

Der dritte Schritt tut richtig weh, denn dabei geht es an deine Zeit. Engagiere dich! Dazu möchte ich dir kurz erzählen, warum ich Teil von IJM geworden bin. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns engagieren und zwar in unterschiedlichen Bereichen – in manchen intensiver, in anderen weniger intensiv. Aber ich glaube, es ist eine große Lüge unserer Zeit, zu sagen: ich engagiere mich schon in Bereich A, deshalb kann ich mich nicht auch noch in Bereich B engagieren. Wir können nicht bei allem voll dabei sein, aber ich kann und muss mich in unterschiedlichen Bereichen einbringen. Das Thema Moderne Sklaverei ist eines der schrecklichsten und beschämendsten Kapitel unserer Geschichte und zugleich ist es eines der Themen, bei dem es wirklich jede*n braucht – ach so hier lesen ja nur Männer: also bei dem es wirklich JEDEN braucht.

Warum schreibe ich diesen Text auf der Seite von Lionchasers? Ganz ehrlich: Weil ich enttäuscht bin von uns Männern. In unserer Lokalgruppe engagieren sich zu 90% junge Frauen gegen Menschenhandel und Moderne Sklaverei. Wenn man ganz stereotyp argumentieren will, könnte man sagen: Frauen haben das weichere Herz und engagieren sich deshalb besonders gerne in sozialen Projekten: sie helfen älteren Menschen, Kindern in Afrika und so weiter. Ich halte diese Argumentation für unsinnig und unwahr. Aber wenn man so argumentieren möchte, dann müssten wir Männer uns gerade beim Kampf gegen Cybersexausbeutung engagieren als bewaffnete Polizisten, scharfzüngige Anwälte und verdeckte Ermittler wie in den spannendsten Actionthrillern … und vor allem dadurch, dass wir in den „Männerrunden“ der Welt nichts wegschmunzeln oder irgendwie ignorieren, sondern laut werden und in unserem Alltag Verantwortung übernehmen. Ich schreibe diesen Text, weil ich weiß, wozu Männer fähig sind: sie sind in der Lage, die heftigsten Verbrechen an der Menschheit zu verüben und Sklaverei gehört dazu – aber Männer konnten eben vor mehr als 150 Jahren auch Sklaverei offiziell verbieten– wie William Wilberforce – und wir können dafür sorgen, dass es keine Sklaverei mehr gibt und mit ihr auch keine Kinder, die vor im Internet live sexuell ausgebeutet werden.

 


Gastbeitrag

 

Ein Beitrag von Daniel Wegner (@daniel.befluegelt)

Engagiert bei International Justice Mission (IJM Deutschland)

online erreichbar unter www.ijm-deutschland.de

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